Die Grenzen zwischen Optimismus und toxischer Positivität

Optimismus und das Bedürfnis nach Harmonie sind positive Eigenschaften, die in vielen Lebenslagen wertvoll sein können. Doch aufmunternde Worte können auch schnell als Druckmacher empfunden werden, denn die Grenzen zwischen Optimismus und toxischer Positivität sind fließend.

Aussagen wie „Good vibes only“ oder „Denk doch mal positiv“ hören wir tagtäglich. Sowohl im echten Leben, als auch auf Social Media wird der Eindruck vermittelt, dass ein glückliches Dasein lediglich eine Frage der Einstellung ist. Jeder Rückschlag soll als eine Herausforderung angenommen und das Positive daraus gezogen werden. Negative Gedanken und Emotionen dürfen in unserem Leben keinen Raum mehr bekommen. Das suggeriert auch, dass wir nicht mehr über unsere negativen Emotionen sprechen dürfen und dieser Teil von uns abgespalten werden sollte. Dabei ist es ganz natürlich, dass wir emotional auf negative Ereignisse reagieren.

Gemeinsam mit den beiden Psychologinnen Anna Eckert und Lisa Irani geben wir einen Einblick in die Themen toxische Positivität und Harmoniesucht und verraten dir einige Tipps im Umgang mit diesen Phänomenen.

Ein Portrait Bild zeigt die Psychologinnen Anna Eckert und Lisa Irani.
Die Psychologinnen Lisa Irani und Anna Eckert klären über psychologische Themen auf. © privat

Führt Harmoniesucht zu toxischer Positivität?

Die wenigsten Menschen mögen Konflikte, Konfrontationen oder negative Gefühle. Fast jedes Individuum ist auf seine Art und Weise harmoniebedürftig, denn insbesondere wir Menschen sind soziale Wesen und auf zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen. Dennoch können Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen nicht immer vermieden werden. Wer jedoch süchtig nach Harmonie ist, vermeidet jegliche Art von Konfrontation und hegt den innerlichen Drang nach Einigkeit im Freundes- und Familienkreis.

Bei Harmoniesucht handelt es sich um eine extreme Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals, bei dem die eigenen Wünsche und Bedürfnisse kaum Beachtung finden. Besonders harmoniebedürftige Personen neigen dazu, alle Dinge positiv zu betrachten. „Dabei kann die toxische Positivität sehr weitgreifend sein und alle Krisen bagatellisieren, die das Leben mit sich bringt: schmerzliche Verluste, Krankheiten oder tiefgreifende Schicksalsschläge. Anstatt sich den negativen Emotionen zu stellen, wird die Thematisierung dessen lieber vermieden und die positive Message darin gesucht“, erläutern Eckert und Irani.

Positive und negative Aspekte

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Konstrukte gar nicht mal so schlecht zu sein. Wer möchte schon ständig in Streitereien und Auseinandersetzungen geraten? Dinge optimistisch anzugehen und unschöne Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, ist keineswegs etwas Negatives, ganz im Gegenteil. Liegt unser Fokus nur auf den negativen Aspekten des Lebens, so werden wir das Gefühl bekommen, dass uns nur schreckliche Dinge zustoßen. „Eine harmoniebedürftige und eher konfrontationsscheue Person wird häufiger als Zuhörer fungieren und sich emphatisch auf die Wünsche des Gegenübers einstellen können.

Wichtig ist es jedoch, die Waage zu halten. Denn auch negative Emotionen haben ihre Daseinsberechtigung und sollten angenommen werden“, so die Psychologinnen. Sofern wir versuchen allen Konflikten aus dem Weg zu gehen und negative Lebensereignisse wegzuschieben, verspüren wir langfristig einen inneren Druck und Anspannung. Nur weil wir Emotionen unterdrücken, heißt es nicht, dass diese nicht da sind. Erst wenn wir unseren Gefühlen Raum und einen Namen geben, können diese beginnen, sich zu lösen.

Mit welchen Herausforderungen kämpfen betroffene Personen?

Sowohl das eine, als auch das andere führt dazu, dass wir unsere individuellen Bedürfnisse zurückstellen und ausblenden, um unangenehme Gefühle und Situationen zu vermeiden. Innere Werte- und Moralvorstellungen können nicht vertreten werden, Emotionen und Schicksalsschläge werden bagatellisiert, was langfristig zu Erschöpfungszuständen führen kann. Wenn alle Entscheidungen nur noch nach den Wünschen anderer getroffen werden, leidet auch das eigene Selbstwertgefühl darunter. „Überschwängliche Positivität kann aber auch insbesondere dann fehl am Platz sein, wenn es um besonders sensible Themen geht. Auch wenn die Intention nicht negativ behaftet ist, muss dennoch bedacht werden, dass Stressoren von jedem Individuum unterschiedlich bewertet werden“, ergänzen die Expertinnen. Einer Person also zu sagen, dass es „Schlimmeres“ gibt, während diese leidet, kann äußerst verletzend sein.

Wie viel Optimismus ist gesund?

Eine positive Lebenseinstellung führt in der Regel zu weniger Druck- oder Stressempfinden. Eine Studie der Boston University School of Medicine​​​​​¹ fand heraus, dass optimistische Menschen ihre Emotionen sowie ihr Verhalten besser regulieren können und besser mit Stresssituationen oder Schwierigkeiten umgehen. Im Durchschnitt zeigten optimistische Menschen auch eine höhere Lebenserwartung als pessimistische. Unrealistisch optimistische Zukunftserwartungen könnten sich dagegen negativ auf das eigene Wohlbefinden auswirken. Zukunftsvorstellungen sollten möglichst realistisch bleiben, insbesondere wenn es um die eigene Gesundheit geht.

 

¹ Lee, L. O., James, P. Zevon, E. S., Kim, E. S., Trudel-Fitzgerald, C. T., Avron Spiron III, Grodstein, F. & Kubzansky, L. D. (2019). Optimism is associated with exceptional longevity in 2 epidemiologic men and women. PNAS, Biological Sciences, 116 (37), S. 18357-18362.

Gibt es einen Mittelweg zwischen Pessimismus und toxischer Positivität?

Wirft man einen Blick auf die Evolutionspsychologie, so wird man schnell verstehen, dass negative Gedanken und Gefühle ihre Berechtigung haben. Diese sollten zugelassen und angenommen werden, damit sie im Anschluss wieder vorüberziehen dürfen. Dabei gibt es keinen Grund dafür, sich für seine Gefühle zu schämen. Auch hier muss das Gleichgewicht gehalten werden: Nach jedem negativen Gedanken dürfen wir uns wieder Platz für einen positiven schaffen.

„Unangenehme Situationen dürfen auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, denn die Welt ist nun mal nicht nur schwarz oder weiß. Immer nur gute Laune zu haben, ist schlichtweg kaum möglich“, betonen Eckert und Irani. Gesunde Optimisten erkennen auch negative Gedanken an, bagatellisieren diese nicht und hoffen zuversichtlich auf bessere Zeiten.

Verleitet Social Media zu toxischer Positivität?

Social Media ist nicht das reale Leben. Natürlich tendiert fast jeder dazu, auf den sozialen Medien nur die schönen und perfekten Momente des Lebens zu teilen. „Hinter verschlossenen Türen kann es aber ganz anders aussehen, nur diese Momente werden eben nicht so gerne mit der Welt geteilt. Doch genau dadurch wird das Bild bedient, dass so viele Menschen einen offenbar durchweg harmonischen und entspannten Alltag haben. Das kann wiederum dazu führen, dass insbesondere Kinder und Jugendliche den Druck zur Selbstoptimierung verspüren und eine perfekte Außenpräsentation bieten wollen“, so die beiden Psychologinnen.

Die sozialen Vergleiche führen zu einem negativen Selbstbild, verringern den Selbstwert und negative Ereignisse und Gefühle werden stetig hinterfragt. Dennoch ist in den sozialen Medien eine Wende zu vermerken, denn immer mehr Meinungsblogger bieten auch einen Einblick in ihre Gefühlswelt oder teilen negative Momente mit der Öffentlichkeit.

Tipps von den Psychologinnen Anna und Lisa im Umgang mit toxischer Positivität und Harmoniesucht

  1. Individuellen Umgang mit Emotionen zulassen

    Jeder Mensch sollte für sein Handeln die Verantwortung übernehmen und es ist tatsächlich wahr, dass der individuelle Umgang mit Ereignissen großen Einfluss auf den Verlauf unseres Lebens nehmen kann. Sätze wie „Sieh es doch einfach positiv“ sind vielleicht nett gemeint, sprechen jedoch jeglicher negativen Emotion ihre Daseinsberechtigung ab. Jeder kann selbst entscheiden, ob und wie man einen schweren Schicksalsschlag in etwas Positives umwandeln kann oder möchte. Der Verlust eines geliebten Menschen oder Tieres ist in der Realität unglaublich schmerzhaft und lässt sich realistisch gesehen nicht mit positiven Glaubenssätzen füllen. Die Gefühle sollten daher angenommen werden, ohne dass wir sofort versuchen müssen, dem Tod etwas Positives abzugewinnen.

  2. Glaubenssätze positiv formulieren

    In welchen Situationen stört dich deine Harmoniesucht besonders? Hast du schon einmal eine Person durch toxische Positivität invalidiert? Überlege dir, welche Glaubenssätze du von deinen Bezugspersonen in der Kindheit vermittelt bekommen hast. Hast du häufiger Streitereien deiner Eltern mitbekommen? Wurdest du von geliebten Menschen verlassen? Schreibe dir deine tief verankerten dysfunktionalen Glaubenssätze auf und verwandele sie jeweils in etwas Positives.

    Das könnte dann zum Beispiel so aussehen:

    „Wenn ich meine Meinung äußere, werde ich aus der Gruppe ausgeschlossen.“ zu „Wenn ich für mich und meine Bedürfnisse einstehe, werde ich in der Gruppe bewundert.“

  3. Ursprung der Harmoniesucht nachgehen

    Langfristig sollten die Wurzeln der Harmoniesucht aufdeckt und bearbeitet werden, denn diese liegen meist tief verankert in der Kindheit. Harmoniesucht hängt dabei oft mit der Angst vor Zurückweisung zusammen und auch der eigene Selbstwert spielt dabei eine bedeutende Rolle.

    Wie bei den meisten Dingen im Leben gilt: Die Dosis macht das Gift. Verdrängte Gefühle kommen häufig mit doppelter Wucht zurück. Ab einem gewissen Punkt sollte man auch im Rahmen einer Krise versuchen, ihr etwas Positives abzugewinnen. Wann dieser Punkt erreicht ist, darf jeder ganz selbstständig festlegen.

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