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Gesundheit 01/2022
Bunte Illustration von Köpfen mit unterschiedlichen Fähigkeiten.

Nach Autismus-Diagnose – „Ich habe endlich zu meiner wahren Persönlichkeit gefunden“

Birgit Saalfrank arbeitet als Psychotherapeutin, als sie mit 39 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom erhält. Ihre Welt bricht zusammen. Doch sie geht offen mit der Diagnose um, protokolliert alles – und hilft damit vielen anderen Betroffenen.

Wir haben mit Birgit Saalfrank darüber gesprochen, wie es ihr nach der Diagnose ergangen ist, wie ihr Alltag mit dem Asperger-Syndrom aussieht und wie sie die Geschehnisse verarbeitet hat.

Birgit Saalfrank, Psychotherapeutin.
Birgit Saalfrank veröffentlichte 2019 ihr Buch „Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin“.

Mobil Krankenkasse: Frau Saalfrank, bei Ihnen wurde das Asperger-Syndrom erst mit 39 Jahren festgestellt. Wie kam es zu der späten Diagnose?

Birgit Saalfrank: Ich hatte so gut wie keine Freundschaften, wusste nicht, wie das geht – obwohl ich selbst, durchaus erfolgreich, als Psychotherapeutin arbeitete. Wie passte das zusammen? Ich konnte keinen Blickkontakt halten, fühlte mich ständig erschöpft. In Gruppensituationen war ich regelhaft überfordert, fror innerlich ein und war extrem angespannt. Selbst in meiner Psychoanalyse als Patientin fühlte ich oft keinen Kontakt zu mir selbst, keinen Kontakt zur Analytikerin. Irgendwann fiel mir die Autobiografie eines Menschen mit dem Asperger-Syndrom in die Hände. Konnte es tatsächlich sein, dass auch ich autistisch war? Obwohl ich in einem sozialen Beruf arbeitete? Damals war die Ansicht noch sehr verbreitet, dass nur nicht sprechende Menschen, die ein hohes Maß an Versorgung durch andere benötigen, an Autismus leiden (Beispiel: der Kinofilm „Rainman“). Auch die meisten Ärzte und Ärztinnen dachten das damals. Deshalb fielen Menschen wie ich, die einem Beruf nachgingen und in einer Partnerschaft lebten, also äußerlich gut angepasst waren, regelhaft durchs Raster. In meiner eigenen Psychoanalyse wurde nach Kindheitstraumata gesucht, die ich in dieser Form gar nicht hatte. Denn Autismus ist eine angeborene Entwicklungsstörung und hat mit Erziehung nichts zu tun. Meine Diagnose habe ich dann 2010 in einer Fachambulanz erhalten, die sich auf die Erkennung von hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen spezialisiert hat.

Mobil Krankenkasse: Wie hat sich Ihr Leben nach der Autismus-Diagnose verändert?

Birgit Saalfrank: Die Autismus-Diagnose war eine absolute Zäsur in meinem Leben. Vorher hatte ich überall Leistung gebracht, mir (berufliche) Ziele gesetzt und sie erreicht. Danach blieb kein Stein mehr auf dem anderen. Die Erschöpfung, die ich schon so viele Jahre gespürt, aber immer wieder verdrängt hatte – weil sie „störte“ in meinem Leben –, brach sich Bahn und ging nicht mehr weg. Meine Arbeit als Psychotherapeutin, die ich trotz der enormen Energie, die sie mich kostete, immer als sinnvoll und sinnstiftend erlebt hatte, konnte ich nicht mehr ausüben. Nun rächte es sich, dass ich mich selbst so viele Jahre lang ausgebeutet hatte. Es war sehr schwer für mich, meine folgende Frühberentung zu akzeptieren, da ich mich immer sehr über meine Leistung definiert hatte.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: Ich lernte mich selbst besser kennen – in meinen Stärken und Schwächen – und entwickelte echtes Selbstbewusstsein, von innen heraus. Es war ein sehr gutes Gefühl, endlich Zugang zu meiner wirklichen Persönlichkeit zu erhalten, indem ich aufgehört hatte (aufhören musste!), mich über den Beruf zu definieren. Ich begann, Freundschaften zu schließen und mich in der Autismus-Selbsthilfe zu engagieren. Zu guter Letzt lernte ich in dieser Zeit auch meinen jetzigen Ehemann kennen, mit dem ich sehr glücklich bin.

Mobil Krankenkasse: Wenn Sie zurückblicken, wie hat der Autismus damals Ihre Tätigkeit als Psychotherapeutin beeinflusst?

Birgit Saalfrank: Das ist wahrlich eine sehr schwere Frage für mich, weil ich nicht weiß, wie nicht autistische Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen ihre Arbeit (vor allem innerlich) erleben. Es ist so, als wenn Sie einen farbenblinden Menschen fragen würden, was er glaubt, wie Menschen ohne diese Beeinträchtigung seiner Ansicht nach Farben wahrnehmen. Er weiß es einfach nicht!

Was ich sagen kann, ist, dass ich neben meiner eigentlichen Arbeit mit den Patienten und Patientinnen parallel im Kopf immer eine Art Qualitätsmanagement durchgeführt habe. Jede einzelne Therapiestunde, bei Einzel- oder auch bei Gruppentherapien, habe ich im Nachhinein für mich analysiert und auf mögliche Verbesserungen hin untersucht. Ich wollte meinen Patienten und Patientinnen die bestmögliche Therapie anbieten. Therapeuten und Therapeutinnen ohne Autismus finden Rat und Unterstützung nicht nur in der Supervision, sondern oft auch im kollegialen Austausch. Das fiel mir sehr schwer, also reflektierte ich viel für mich selbst. Ich vermute, dass meine Patienten und Patientinnen den Unterschied zu einer nicht autistischen Therapeutin gar nicht bemerkt haben. Für mich jedoch war die therapeutische Arbeit mit extrem viel Kopfarbeit verbunden, weshalb sie mich auch so viel Kraft kostete.

Mobil Krankenkasse: Geben Sie uns einen kleinen Einblick, wie Ihr Alltag mit dem Asperger-Syndrom aussieht? In welchen Momenten fühlen Sie sich besonders beeinflusst?

Birgit Saalfrank: Ein Psychiater sagte vor einiger Zeit zu mir, bei mir läge seiner Ansicht nach ein „Mischbild“ aus Autismus und Depression vor. Das stimmt wahrscheinlich. Dazu kommt noch die Erschöpfungssymptomatik, die mich auch nach meiner Frühberentung beeinträchtigt. Den „reinen Autismus“ wird man bei mir also nicht mehr finden. Jedoch habe ich immer noch Schwierigkeiten in der Kommunikation, z.B. damit, zwischen den Zeilen zu lesen oder Ironie zu verstehen. Auch bekomme ich oft die Rückmeldung, sehr direkt zu kommunizieren, wodurch sich manch ein „neurotypischer“ Mensch (ein Mensch ohne Autismus) zuweilen auf die Füße getreten fühlt. Obwohl ich das gar nicht beabsichtige, sondern nur klar sagen möchte, was ich denke.

Was ich gar nicht aushalte, sind unstrukturierte Gruppensituationen, wo mehrere Menschen durcheinanderreden. Weil ich dann alle Gespräche um mich herum gleich laut wahrnehme und sehr schnell in eine starke Reizüberflutung gerate. Diese wird erst wieder besser, wenn ich die Situation verlasse. Das ist ein großer Unterschied zu Menschen mit sozialen Ängsten: Diese müssen ja lernen, in der Situation zu bleiben, bis die Angst von alleine wieder nachlässt (was bei autismusbedingten Reizüberflutungen oder „Overloads“ eben nicht der Fall ist). 

Ansonsten verbringe ich pro Tag sehr viel Zeit damit, mich selbst zu „coachen“. Herauszufinden, wie es mir gerade geht (und warum), was ich jetzt benötige oder tun möchte. Täte ich das nicht, würde ich mich den kompletten Tag lang durcheinander, verwirrt und überfordert fühlen. Meine Intelligenz hilft mir dabei, dass ich trotz meines Autismus alleine leben kann.

Mobil Krankenkasse: 2019 erschien Ihr Buch, „Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin“. Wie kam es dazu?

Birgit Saalfrank: Im Herbst 2011 musste ich eine berufliche Wiedereingliederung abbrechen, weil ich es einfach nicht mehr geschafft habe zu arbeiten. Auf diese Erfahrung reagierte ich mit einer schweren Depression und großer Hoffnungslosigkeit. In dieser Zeit schloss ich einen Pakt mit mir selbst: Ich würde mein Leben in der nächsten Zeit schriftlich protokollieren, um mir selbst eine sinnvolle Aufgabe in dieser schwierigen Zeit zu geben. Vielleicht könnte ich meine Aufzeichnungen ja auch irgendwann veröffentlichen und damit anderen Menschen in einer ähnlichen Situation Hoffnung und Mut auf ein gutes Leben nach der Asperger-Diagnose machen. Die Beschreibung meiner autistischen Schwierigkeiten und Besonderheiten, von Kindheit an, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Ich beschreibe auch ausführlich meine psychiatrischen Klinikaufenthalte als Patientin und meine langjährige Psychoanalyse. Immer noch erhalte ich Mails von Lesern und Leserinnen, die sich in meinen Schilderungen wiederfinden und meinen Text als Hilfestellung zur Erkundung und Entwicklung ihres eigenen Selbst erleben. Das berührt mich immer wieder sehr und ich freue mich, dass mein langer Leidensweg nicht nur für mich, sondern auch für andere nicht umsonst gewesen ist.

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