„Was brauch ich und was brauchst du?“ – Tipps für ein zufriedeneres Familienleben
Die Bestsellerautorin über den Nordstern als Leitbild, warum unser Bauchgefühl nicht immer der beste Ratgeber ist, welchen Einfluss die eigenen Eltern auf unsere Art der Erziehung haben und was der Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen ist.
Seit Tausenden von Jahren lenkt der Nordstern die Seefahrer sicher übers Meer mit all seinen Wogen und Stürmen, mit seinen Gefahren und seinen Sonnentagen – jetzt hat er eine neue Bedeutung gefunden. Als Nordstern beschreibt Nora Imlau in ihrem neuen Buch „Mein Familienkompass“ das Leitbild, das uns auf unserem Weg als Familie begleitet. „Was brauch ich, was brauchst du“, fragt der Stern uns, in Momenten, in denen wir als Eltern nicht weiterwissen. Die Orientierung am eigenen Nordstern, an den eigenen Werten, soll helfen, den Bedürfnissen aller Familienmitglieder gerecht zu werden. Warum wir dabei nicht nur auf das Hier und Jetzt schauen dürfen, sondern auch auf das, was uns unsere Eltern mitgegeben haben (und deren Eltern ihnen) und warum Instagram kein ideales Vorbild ist, erzählt uns die Spiegel-Bestsellerautorin im Interview.
BKK Mobil Oil: Frau Imlau, Sie schreiben, dass jede Familie ihren eigenen Nordstern braucht, der sie leitet. Wie finde ich als Elternteil heraus, was der Nordstern – das Leitbild – für meine Familie ist?
Nora Imlau: Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns als Eltern fragen: Was ist uns das Wichtigste im Zusammenleben mit unseren Kindern? Was ist das Fundament, auf dem wir unsere Familie gründen wollen? Wenn ich mit Eltern darüber spreche, ist es oft so, dass es eben nicht das Wichtigste des gesamten Familienlebens ist, dass das Kind im eigenen Bett schläft oder dass es immer seinen Teller leer isst. Sondern die Eltern wünschen sich, dass es ihnen „als Familie miteinander gut geht“.
Wir wünschen uns ein Familienleben, in dem wir uns gegenseitig Vertrauen können und in dem sich unsere Kinder sicher und geborgen fühlen. Aber auch einen Alltag, in dem wir Eltern auch Raum haben für unsere Bedürfnisse. Wo hier der Schwerpunkt liegt, ist dabei in jeder Familie ein bisschen anders. Das hat natürlich auch viel mit eigenen Erfahrungen zu tun. Hier ist mir wichtig, dass Eltern verstehen, dass ein Nordstern nichts ist, das sich jede Woche ändert. Der Nordstern hat nichts mit den tagesaktuellen Kämpfen oder Diskussionen zu tun, sondern er ist das Ideal, nach dem wir streben. Wir müssen es nicht erreichen, aber wenn wir dem nahekommen, dann geht es uns schon mal gut miteinander.
Es soll uns als Familien miteinander gut gehen.
Nora Imlau
BKK Mobil Oil: In diesem Zusammenhang wird jungen Eltern immer geraten, einfach auf ihr Bauchgefühl zu hören. Sie schreiben dazu: „Wir geben unseren Kindern nicht nur weiter, was wir uns wünschen, sondern auch das, was uns geprägt hat.“ So gesehen, kann es problematisch sein, jungen Eltern zu raten, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Aber auf was sollen sie dann hören?
Nora Imlau: Wir müssen uns klarmachen, dass unser Bauchgefühl ein wilder Mix ist aus tatsächlicher Intuition und alten Prägungen. Dieses Gefühl ist jedoch durch Information veränderbar. Wenn mir jemand sagt, dass Kinder lernen müssen, alleine einzuschlafen, wird mir mein Bauchgefühl bestätigen, dass ich das weinende Baby nicht hochnehmen darf. Erfahre ich dann aber, dass Babys weinen, weil sie ein Bedürfnis nach Sicherheit haben und ich sie gar nicht verwöhnen kann, verändert sich mit diesem Wissen auch mein Bauchgefühl.
Daher rate ich Eltern dazu, sich über die Basics der Entwicklungspsychologie zu informieren. Wenn ich weiß, was Kinder wann können, dann habe ich verlässliche Informationen für mein Bauchgefühl. Ein weiterer Tipp ist, dass Angst und Schrecken keine guten Ratgeber sind. Wann immer mir eine Person mit fürchterlichen Folgen für mein Verhalten droht, liegt es nahe, dass da jemand versucht, seinen eigenen Glauben zu vermitteln. So gesehen ist es mit das Beste, was wir für die Entwicklung unserer Kinder tun können, uns mit den neusten Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung hinsichtlich der kindlichen Entwicklung zu beschäftigen. Das aktuelle Wissen spielt hier eine große Rolle. Auf der anderen Seite sollten wir unseren eigenen moralischen Kompass schulen. Hier ist die wichtigste Frage, die sich jeder selbst stellen kann: „Wie würde ich wollen, dass man mit mir umgeht?“ Natürlich sind unsere Kinder keine kleinen Erwachsenen, aber sie sind vollwertige Menschen, nur hilfloser. Und das werden wir irgendwann vielleicht auch wieder, wenn wir alt sind. Wie würden wir dann wollen, dass die Menschen um uns herum mit uns umgehen?
BKK Mobil Oil: Sie haben es selbst angesprochen, die Erziehung hat sich in den letzten zwanzig, aber selbst noch in den letzten zehn Jahren sehr verändert. Was ist Ihrem Empfinden nach der Punkt, der sich am stärksten verändert hat?
Nora Imlau: Es hat sich der Fokus stark verändert. Erziehung hatte damals hauptsächlich den Anspruch, dass Eltern ihr Kind in die, aus Sicht der Gesellschaft, richtige Form bringen. Aber auch damals gab es schon unterschiedliche Ansätze und Methoden. Bereits vor zehn Jahren hatte man teilweise den Anspruch, dies ohne Gewalt zu erreichen. Heute ist es aber noch einmal anders: Das Verständnis dafür, dass Kinder als individuelle Persönlichkeiten auf die Welt kommen, die mit der Gemeinschaft, in die sie hineingeboren werden, kooperieren wollen, ist gewachsen. Ich als Elternteil werde nicht länger als „Former“, sondern vielmehr als bestmöglicher Begleiter gesehen.
Als Elternteil bin ich nicht länger der „Former“, sondern der bestmögliche Begleiter.
Nora Imlau
Dabei gebe ich keine Richtung vor, sondern positioniere Leitplanken links und rechts des Weges, um meinem Kind seine eigene Spur zu ermöglichen. Bei uns Erwachsenen gibt es allerdings noch eine große gesellschaftliche Zerrissenheit, da der Wandel im Kinderbild gerade erst begonnen hat. Auf der einen Seite gibt es die Eltern, die das neue Kinderbild bereits verinnerlicht haben, weil sie sich viel damit beschäftigt haben, pädagogisch vorgebildet sind oder nach einer „Erziehung“ gesucht haben, die Eltern und Kindern guttut. Auf der anderen Seite sind da die Eltern und Kontaktpersonen der Kinder (wie Lehrer, Erzieher etc.), die diesen Weg als neumodischen Kram ablehnen, der nur kleine Tyrannen hervorbringt. Und dazwischen stehen noch einmal Eltern, die diese neue positive Eltern-Kind-Beziehung schon für sich entdeckt haben, sich aber im Alltag noch nicht von den eigenen und den Erwartungen anderer lösen können. Hier ist der Knackpunkt oft, dass wenn ich mir vornehme, mein Kind in seiner persönlichen Entwicklung zu begleiten und nicht zu formen, dass ich auch damit klarkommen muss, wenn es sich in seiner Entwicklung anders verhält, als es meinen Wünschen entspricht. Das muss ich aushalten können, denn ich habe bei dieser Form der Beziehung nicht das Recht, die Integrität meines Kindes zu verletzen.
BKK Mobil Oil: Ein funktionierendes Familiengefüge orientiert sich an den Bedürfnissen aller Familienmitglieder. Aber manchmal gibt es Momente, in denen ich den Bedürfnissen meines Kindes nicht nachgehen kann, weil es zum Beispiel um das Zähneputzen oder das Laufen an einer viel befahrenen Straße geht. Wie gehe ich in diesen Momenten auf mein Kind ein und setze dennoch durch, dass es die Zähne putzen muss oder es eben nicht auf die Straße rennt, ohne dabei die Beziehung zu meinem Kind zu gefährden?
Nora Imlau: Ich glaube, hier müssen wir als Eltern als Erstes lernen, zwischen Bedürfnissen und Wünschen zu unterscheiden. „Bedürfnisse“ wird ja oft als Synonym für „Wünsche“ verwendet, was aber nicht richtig ist. Es gibt kein Bedürfnis danach, an der Straße ohne Hand zu laufen, oder das Bedürfnis, dass die Zähne jetzt nicht geputzt werden. Bedürfnisse sind abstraktere Erfahrungen, die wir alle brauchen. Dazu gehört zum Beispiel das Bedürfnis nach Autonomie oder das Bedürfnis danach, dass die eigenen körperlichen Grenzen gewahrt werden. Diese Bedürfnisse lassen sich auf unterschiedliche Weise erfüllen. Zum Beispiel kann ich als Elternteil, wenn ich wahrnehme, dass mein Laufanfänger-Kind ein großes Bedürfnis nach Autonomie hat und gerne alleine laufen möchte, überlegen, wo ich diesem sicher nachgehen kann. Das geht bei einem Besuch im Zoo, im Stadtpark oder in einem geschlossenen Hof. Und wenn mein Kind ein starkes Bedürfnis hat, über sich und seinen Körper zu entscheiden, dann kann ich auch Situationen erschaffen, die diesem Bedürfnis Raum geben. Zum Beispiel indem ich sage, wenn du hier in der Unterhose rumrennen willst, ist das okay. Wenn du deine Haare wachsen lassen möchtest, ist das ebenso in Ordnung. Es gibt also viele Bereiche, in denen wir die körperliche Integrität wahren können, ohne dass den Kindern Gefahren drohen. Auf der anderen Seite gibt es einzelne Situationen, in denen unsere Kinder einen bestimmten Wunsch haben, wie sich ihr Bedürfnis erfüllen soll, wir aber diesem Wunsch aus Sicherheitsgründen nicht stattgeben können. In solchen Situationen plädiere ich für das sogenannte „zugewandte Durchsetzen“. Das heißt, wir setzen unsere Macht, und manchmal auch unsere körperliche Überlegenheit, gezielt ein. Wichtig ist, nicht sauer zu werden, wenn die Kinder dann aus Protest Gegenwehr leisten. Wir würdigen ihren Widerspruch, indem wir mit den Kindern darüber sprechen: „Ja, das ist jetzt schwer für dich und du findest das ganz blöd, an meiner Hand zu laufen, aber ich bin die Mama, ich habe Verantwortung für dich und ich entscheide jetzt, dass es notwendig ist.“ Dieses elterliche Verhalten kann man üben und lernen. Viele Eltern sind in solchen Momenten von den Protesten ihrer Kinder frustriert. Sie bemühen sich so sehr und die Kinder machen trotzdem nicht, was sie sollen.
Unsere Erwartungshaltung ist der einzige Punkt, den wir ändern können.
Nora Imlau
Dabei ist unsere Erwartungshaltung der einzige Punkt, den wir hier ändern können. Die Kinder können hier nichts anders machen. Im Gegenteil: Ihre Grenzüberschreitung ist ein gutes Zeichen, das zeigt, dass das Kind in dem Gefühl aufwächst, klar seine eigenen Grenzen verteidigen zu dürfen. Was im Übrigen eine der besten Prophylaxen gegen jede Form von Missbrauch, Manipulation etc. ist.
Wichtig ist für uns: Wir als Eltern sind in diesen Momenten diejenigen, die zugewandt bleiben müssen, ohne dabei aggressiv zu werden oder zu handeln.
BKK Mobil Oil: Welche Rolle spielt die Beziehung zu unseren Eltern, wenn es um die Erziehung und die Beziehung zu den eigenen Kindern geht?
Nora Imlau: Viele von uns sind durchaus mit liebevollen Eltern groß geworden, nur leider war deren Liebe oft nicht bedingungslos. Häufig haben wir unbewusst die Botschaft mitbekommen, dass wir bestimmte Erwartungen erfüllen müssen, um geliebt und liebenswert zu sein. Die Unsicherheit, die dadurch in uns entstanden ist, prägt uns auch im Umgang mit den eigenen Kindern. Wir wollen ihnen Sicherheit vermitteln, haben aber selbst Angst davor, abgelehnt zu werden. Um da herauszukommen, ist es wichtig, uns selbst zu geben, was viele unserer Eltern uns nicht geben konnten. Sie sind selbst eine Generation, die vom Schatten der Kriegserfahrungen ihrer eigenen Eltern stark beeinflusst wurde. Wir müssen jetzt lernen, diesen Kreis zu durchbrechen, indem wir zu uns selbst sagen: „Du bist und warst immer richtig und gut. Du bist und warst immer liebenswert.“ Wir sollten dabei versuchen, unseren eigenen Eltern auf einer erwachsenen Ebene zu begegnen, und in ihren Äußerungen nur ihren eigenen Leidensdruck sehen. Die Dinge, die sie über uns und unsere Kinder sagen, sagen mehr über unsere Eltern und deren Unsicherheiten und Ängste aus als über uns. Für die meisten Großeltern fühlt es sich bedrohlich an, wenn die eigenen Kinder mit ihren Kindern ganz anders umgehen, als sie selbst es getan haben. Sie sehen dann ihr eigenes Lebenswerk in Frage gestellt. Ein Satz, der dann oft kommt, ist: „Also haben wir alles falsch gemacht.“ Hier merkt man wieder deren eigene große Unsicherheit. Gerne darf man darauf antworten: „Wir wissen, dass ihr uns nach bestem Wissen und Gewissen großgezogen habt. Ihr wolltet sicherlich keine Fehler machen, ich mache euch keine Vorwürfe“ und gleichzeitig mit großer Klarheit sagen: „Die Zeit entwickelt sich weiter, die Werte und die Erziehung entwickeln sich weiter. Wie wir mit unseren Kindern umgehen, ist kein Aburteilen eures Weges, sondern das ist UNSER Weg.“
BKK Mobil Oil: Kleiner Szenenwechsel: Jetzt geht es mal um unsere Wünsche und Bedürfnisse. Stellen wir uns vor, wir haben einen tollen Ausflug geplant, verkünden das freudige Ereignis dem Kind und empfangen nur Ablehnung. Das Kind möchte keinen Ausflug machen und überhaupt sind wir als Familie und besonders wir als Eltern einfach nur blöd. Ist das dieser Bullerbü-Anspruch, der uns hier im Wege steht? Wir wollen unserem Kind eine bunte Kindheit mit tollen Aktivitäten bieten, das Kind hat aber eine ganz eigene Vorstellung davon, wie eine tolle Kindheit auszusehen hat. Wie reagiere ich, wenn das Kind meine eigenen Wünsche kreuzt?
Nora Imlau: Das Problem bei solchen Plänen ist, dass diese oft von unserem eigenen inneren Kind gespeist werden. Denn auch wir haben in unserer Vergangenheit Erfahrungen gemacht, die uns besonders wichtig waren. Oder wir haben uns auf der anderen Seite Erlebnisse oder Dinge gewünscht, die wir gerne gehabt hätten, und projizieren diese Wünsche dann auf unsere Kinder, weil wir ihnen eine perfekte Kindheit schenken wollen.
Wir projizieren unsere eigenen Wünsche auf unsere Kinder, weil wir ihnen eine perfekte Kindheit schenken wollen.
Nora Imlau
Dabei geht es um Erfahrungen, die wir uns wünschen und die wir jetzt mit dem Kind als Vehikel umsetzen wollen. Lehnen unsere Kinder unsere Pläne ab, dann wurden wir nicht nur in unserer Kindheit enttäuscht, sondern jetzt noch ein weiteres Mal. Da sind die Enttäuschung und der innere Schmerz groß. So ein richtiger Bullerbü-Tag für mein Kind würde mir selbst emotional so viel geben und das Zerstören dieses Traums durch das eigene Kind fühlt sich fundamental an. Wir sollten hier lernen, diese beiden Ebenen zu trennen: unsere Wünsche für die Kindheit des Kindes und unsere eigenen. Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Situation jetzt als Elternteil zu lösen. Zum einen kann ich diesen Ausflug, den ich mir ja wünsche, lieber mit einer Freundin oder dem Partner machen, ohne Kinder. Wir gehen auf einen Spielplatz und schaukeln die Riesenschaukel, warum nicht? Oder aber ich erkenne, dass das Kind vielleicht auch auf Grund des Erwartungsdrucks, der auf ihm lastet, blockiert, und kläre das: „Wir machen jetzt diesen Ausflug. Den machen wir nicht für dich, sondern für mich und du kommst einfach mit.“ Auf diese Weise nehmen wir dem Kind den Druck. Und wer weiß, vielleicht wird das ja ein toller Tag für alle. Genauso sollten wir aber nicht enttäuscht sein, wenn das Kind den Tag nur „so mittel“ fand. Hier ist wichtig, dass das Kind es so empfunden hat. Was wir aus diesem Tag mitnehmen, liegt ganz allein bei uns.
Nicht nur bei solchen Ausflügen, auch sonst in der Erziehung laufen viele Eltern heute einem bullerbüesken Ideal hinterher und haben dann das Gefühl zu scheitern, wenn ihre Kinder nicht so unbekümmert aufwachsen wie Lasse, Bosse und die anderen Kinder aus Bullerbü.
BKK Mobil Oil: Dieses Ideal zeigt sich ja oft schon bei der Gestaltung eines simplen Geburtstagskuchens …
Nora Imlau: Das ist auch so ein Punkt, der mich stark irritiert. Manchmal teile auch ich in den sozialen Netzwerken kleine Ausschnitte aus unserem Familienleben. Neulich habe ich, ganz ohne Hintergedanken, den Geburtstagskuchen meiner Tochter gezeigt. Seit Jahr und Tag ist das der gleiche Kuchen. Ein schlichter Kastenkuchen mit einem Segel drauf, das zeigt, dass es sich um ein Piratenschiff handeln soll. Ich habe diesen Kuchen schon öfter gezeigt, aber in diesem Jahr bekam ich unglaublich viel Zuspruch dafür. „Du bist so mutig, diesen einfachen Kuchen zu zeigen!“ Da merkt man, wie sich die Standards verschoben haben und welch ein Perfektionsdruck herrscht, wenn ein Kastenkuchen als revolutionär gilt.
Viele Eltern inszenieren Dinge, die hübsch für Erwachsene aussehen, und das geht dann meist völlig an den Bedürfnissen der Kinder vorbei. Diese Fondant-Torten sehen toll aus, aber ich habe noch nie erlebt, dass ein Kind sie gerne gegessen hat.
BKK Mobil Oil: Das bringt uns direkt zu unserer nächsten Frage: Denn es gibt sie natürlich, die perfekten, bullerbüesken Familien, mit liebevollen, stets verständnisvollen Eltern, perfekten und fröhlichen Kindern, Müttern, die wie aus dem Ei gepellt erscheinen, in einem perfekten Leben. Doch irgendwie nur bei Instagram. Was ist das Problem an solchen Idealen? Und ist es okay, wenn meine Familie anders ist?
Nora Imlau: Es ist natürlich in Ordnung, wenn es das Hobby einer Familie ist, ihren Alltag in den sozialen Netzwerken zu teilen und dabei Wert auf die ästhetischen Seiten des Familienlebens zu legen. Ich will das nicht verurteilen. Das Problem ist nur, wenn Menschen, die selbst gerade in ihrer Rollenfindung als Eltern sind, diese Instagram-Profile sehen und vielleicht auch nur solchen folgen, wenn sie die perfekten Inszenierungen als ein gefühltes „Normal“ annehmen. Fangen die Follower dann an, sich an diesem Standard zu messen, kann es nur dazu führen, dass ihnen ihr eigener Alltag wie ein wandelndes Desaster vorkommt.
Ich merke an mir selbst, dass da viel unterbewusst passiert. Ich weiß zum Beispiel, welche Wirkung Medien entfalten können, und trotzdem fällt es mir manchmal schwer, eine Grenze zu ziehen.
Dann sehe ich diese perfekten Bilder bei Instagram und werde immer kleiner und unsicherer.
Nora Imlau
Dann sehe ich diese perfekten Bilder und werde immer kleiner und unsicherer, weil ich denke: „Und bei uns gibt es nur Wäscheberge und wie die Küche gerade wieder aussieht und die Kinderzimmer erst …“ Ich glaube, das ist das Gefährliche an solchen Bildern. Instagram, und auch andere soziale Netzwerke, ersetzen heute bei jungen Müttern fast die Funktion des Freundeskreises. Viele junge Mütter fühlen sich einsam und Corona verstärkt das aktuell noch. Wenn ich dann so ein kuratiertes Bild der Wirklichkeit bekomme und denke, alle sind perfekt, nur ich nicht, kann das wirklich gefährlich werden. Man fängt an, sich an perfektionistischen Standards abzuarbeiten, und wird immer unzufriedener mit dem eigenen Leben. Umso wichtiger ist es, einen Gegenpol zu haben. Das sind am besten liebe Menschen im direkten Umfeld, mit denen man auch über die schwierigen Seiten des Familienlebens sprechen kann. Freunde, die man auch ins Haus lässt, wenn Krümel auf dem Boden liegen und das typische Familienchaos herrscht.
BKK Mobil Oil: Eine Frage zum Schluss: Ist der Leitspruch zur Suche nach dem familieneigenen Nordstern „Was brauch ich und was brauchst du?“ der Deeskalationsgeheimtipp für Familien?
Nora Imlau: „Was brauch ich und was brauchst du?“ ist für mich tatsächlich einfach eine der konstruktivsten Fragen, die man sich im Miteinander mit anderen Menschen stellen kann. Das gilt nicht nur zuhause als Familie oder als Paar, sondern auch mit den Kollegen im Büro, bei den Nachbarn und Freunden. Wenn wir davon ausgehen, dass wir Menschen letztlich alle Bedürfniswesen sind, ist das der Antrieb von allem, was wir tun. Der große Kommunikationspsychologe Marshall Rosenberg sagte einmal: „Alles, was wir als Menschen tun oder nicht tun, machen wir, um uns dadurch mindestens ein Bedürfnis zu erfüllen.“ Deswegen tun wir manchmal auch Dinge, die anderen seltsam erscheinen oder sinnlos – der Sinn dahinter ist aber oft einfach nur die Befriedigung eines Bedürfnisses. Deshalb finde ich es in einer festgefahrenen Situation sehr hilfreich, einmal kurz innezuhalten und sich zu fragen: „Was brauch ich und was brauchst du?“ Der Schlüssel zu einem gelungenen Familienleben sind die Bedürfnisse aller und die müssen erst mal gesehen werden. Denn wenn ich verstehe: „Mein Kind strebt gerade nach Autonomie, ich aber strebe nach Ruhe und Entspannung“ – dann kann ich verstehen, woher der Frust kommt, und kann anfangen, nach Lösungen zu suchen. Ich habe vier Kinder und merke das selbst sehr häufig. Von einem Moment auf den anderen werde ich von den unterschiedlichen Bedürfnissen bestürmt, die der Alltag mit sich bringt: Alle wollen alles gleichzeitig und meist widersprüchliche Dinge. Dann halte ich kurz inne, atme und frage mich: „Okay. Was brauche ich? Und was brauchst du? Und du? Und du? Und du?“
Was brauche ich? Und was brauchst du? Und du? Und du?
Nora Imlau
Habe ich das eruiert, kann ich mir die Antworten einmal selbst aufzählen: „Du brauchst scheinbar gerade Nähe. Und du etwas zu essen. Du brauchst dies und du brauchst das. Und ich? Ich brauche jetzt erst mal eine Pause.“ Wenn ich das alles benannt habe, kann ich überlegen, wie die Bedürfnisse von fünf unterschiedlichen Menschen unter einen Hut zu bekommen sind.
Für Eltern ist es hierbei eine wichtige Übung, in Bedürfnissen und nicht in Machtkämpfen zu denken. Denn oft genug versuchen wir als Eltern, wie auch schon unsere Eltern, etwas stur durchzukämpfen, weil wir uns im Recht sehen. Das führt aber nur zu Blockaden auf beiden Seiten. Aus diesem Automatismus kommt man heraus, indem man versucht, erst einmal jedes Bedürfnis zu sehen, ohne es zu bewerten, und dabei stellt man dann schnell fest: „Wir sind verschiedene Menschen und wir haben gerade verschiedene Bedürfnisse. Von diesem Punkt aus versuchen wir jetzt gemeinsam weiterzugehen.“
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