Einzelkinder: Typische Vorurteile und wie Eltern damit umgehen können
Eltern von Einzelkindern sehen sich oft mit Klischees und äußeren Erwartungen konfrontiert. Wie begründet sind die Vorurteile? Wie grenzt man sich am besten ab? Und worauf gilt es bei der Erziehung zu achten? Expertin Anna Hofer gibt Einblicke.
Verwöhnt und egoistisch – das sind einige der Stereotype, mit denen Einzelkinder häufig in Verbindung gebracht werden. Sowohl für die Kinder selbst als auch für die Eltern entsteht daraus oft ein Rechtfertigungsdruck. Eine Folge kann sein, dass die eigene Familiensituation übermäßig kritisch betrachtet wird. Expertin und Autorin Anna Hofer ist psychologische Beraterin und begleitet Familien in belastenden Situationen. Im Interview verrät sie mehr über gängige Klischees und potenzielle Herausforderungen, vor die Eltern von Einzelkindern immer wieder gestellt werden.
Frau Hofer, wie sind die Vorurteile gegenüber Einzelkindern überhaupt entstanden?
Anna Hofer: Viele der Klischees haben historische Wurzeln. In vergangenen Zeiten war die Vorstellung einer großen Familie mit mehreren Kindern weit verbreitet. Sie wurde als ideal angesehen und nicht selten mit Wohlstand gleichgesetzt. Einzelkinder wurden in diesem Kontext als ungewöhnlich betrachtet – und wir wissen: Was von der Norm abweicht, bekommt leider schnell einen negativen Stempel aufgedrückt.
Hat es denn tatsächlich Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung, ob ein Kind Geschwister hat oder nicht?
Anna Hofer: Etliche Studien haben gezeigt, dass sich Einzelkinder nicht signifikant anders entwickeln als Kinder mit Geschwistern. Es ist vielmehr ein breites Spektrum soziokultureller Faktoren, das unsere Persönlichkeit formt. Unser Wertesystem, der Umgang miteinander, Empathie – all das wird nicht ausschließlich durch unsere Familie beeinflusst, sondern auch durch andere Kinder, andere Familien, Tagesmütter, Lehrer, Sportvereine und vieles mehr. Deswegen verschwindet dieser vermeintlich signifikante Unterschied zwischen Einzelkindern und Geschwistern sehr schnell. Man kann auch sagen: Einzelkindern entsteht überhaupt gar kein Nachteil, sofern sie mit anderen Menschen zu tun haben – ganz egal, ob das Geschwister sind oder nicht.
Man kann also gar nicht sagen, dass irgendetwas „typisch Einzelkind“ ist?
Anna Hofer: Tatsächlich genießen Einzelkinder und Erstgeborene, die ja für eine Weile einen Einzelkindstatus hatten, tendenziell einen Vorteil aufgrund der intensiven Betreuung durch die Eltern. Sie tun sich zum Beispiel oft leichter im Spracherwerb. Geschwisterkinder entwickeln dagegen im Schnitt früher die kognitive Fähigkeit, die mentalen Zustände anderer zu verstehen, und zu erkennen, dass diese von den eigenen abweichen können. Das ist die sogenannte Theory of Mind. Diese Fähigkeit ergibt sich bei Geschwisterkindern quasi aus der Situation heraus.
Und doch sagen Sie, dass dies lediglich Tendenzen sind …
Anna Hofer: Richtig, all das sind Unterschiede, die in Studien nicht klar messbar sind. Der Psychologe Michael Dufner hat beispielsweise eine große Untersuchung zum Thema Narzissmus und Einzelkinder durchgeführt, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass Narzissmus bei Einzelkindern stärker ausgeprägt ist als bei Menschen mit Geschwistern. Dennoch sich die Vorbehalte gegenüber Einzelkindern gerade bei jenen, die selbst gar keine Einzelkinder kennen, extrem groß.
Gibt es denn Aspekte, auf die Eltern von Einzelkindern bei der Erziehung besonders achten sollten?
Anna Hofer: Wie schon gesagt: Was Kinder grundsätzlich brauchen, ist Austausch, sind Freunde, sind Situationen, in denen sie sozial wachsen und reifen können. Das kann das gemeinsame Mittagessen in der Kita sein, das gemeinsame Spielen, das gemeinsame Austaktieren. Interessanterweise sind Einzelkinder oft weitaus diplomatischer bei Konflikten, weil Freundschaften für sie wichtiger sind. Negativ betrachtet kann man sagen, dass sie manchmal deutlicher über ihre Grenzen hinausgehen. Hier kann man sie dann tatsächlich begleiten und sagen: Du darfst für dich einstehen. Das ist aber ein wichtiges Learning für alle Familien, wenn die Schulzeit beginnt.
Wie können Eltern von Einzelkindern reagieren, wenn ihr Umfeld sie mit Vorurteilen konfrontiert?
Anna Hofer: Zunächst einmal ist es natürlich extrem übergriffig, überhaupt irgendwelche Familienkonstellationen zu kommentieren. Es gibt ja die verschiedensten Gründe, warum Familien nur ein Kind haben – manchmal ist es eine bewusste Entscheidung, manchmal können oder möchten Eltern aus persönlichen oder gesundheitlichen Gründen ihrem Kind kein Geschwisterkind an die Seite stellen. Das kann sich unfair anfühlen, insbesondere, wenn man subjektiv das Gefühl hat, alle anderen bekommen ein zweites oder drittes Kind. Ich habe selbst ein Einzelkind und musste mir so manche Bemerkung anhören, aber da es bei uns eine bewusste Entscheidung war, konnte ich damit relativ gelassen umgehen. Schwieriger wird es, wenn man gern weitere Kinder hätte.
Was kann in einem solchen Fall passieren?
Anna Hofer: Diesen Familien wird es dann schwergemacht, sich vollwertig und angenommen zu fühlen, so wie sie gerade sind. Das hat auch etwas mit immer noch existierenden Idealvorstellungen zu tun. Sprich: Man ist in dieser Gesellschaft erst etwas, wenn man geheiratet hat, wenn man zwei Kinder hat, wenn man ein Haus im Grünen hat. Es kann auch sein, dass wir etwas kompensieren möchten, was uns selbst gefehlt hat. Es gibt durchaus Einzelkinder, die sagen: Ich fand das nicht so schön, ich habe mir für mein Kind immer etwas anderes gewünscht. Und es tut dann sehr weh, wenn das nicht möglich ist. Deswegen würde ich immer empfehlen, nicht in die Rechtfertigung zu gehen, sondern ganz klar zu sagen: Das ist jetzt gerade echt unhöflich, mich das zu fragen. Darüber möchte ich mich mit dir nicht unterhalten.
Was raten Sie Eltern, die zweifeln, ob ihr Nachwuchs ein Einzelkind bleiben soll oder nicht?
Anna Hofer: Zunächst einmal sollten sie nicht vergessen: Das Gras erscheint auf der anderen Seite immer ein bisschen grüner, ganz egal, auf welcher Seite man steht. Die Entscheidung für ein Kind – auch für ein weiteres Kind – ist immer weitreichend. Unsere Kinder tragen viele Entscheidungen mit, die wir als Eltern fällen. Das heißt, bei aller Fairness und bei aller Romantik und bei allen Hormonen, die da auch eine Rolle spielen, sollten sie sich ehrlich vor Augen führen: Was bedeutet das für uns in fünf Jahren, in zehn Jahren, in 15 Jahren? Und was bedeutet es für unser Kind?
Was ist dabei in Ihren Augen die größte Herausforderung?
Anna Hofer: Es gilt in dieser Situation, sich von den Vorstellungen im Kopf ein Stück weit zu entfernen und sich die Lebensrealität anzuschauen. Gerade, wenn sich kein zweites Kind einstellt, ist es umso wichtiger, nicht defizitär auf das Einzelkind zu schauen, denn das ist nicht fair. Es schadet der Eltern-Kind-Beziehung, dem Einzelkind und auch der ganzen Wertigkeit dieser Familie, die ja da ist und sich liebt.
Haben Sie noch mehr Tipps für Eltern in dieser Situation?
Anna Hofer: Ein weiterer Tipp wäre, für eine Weile eine Social-Media-Pause zu machen, denn der Algorithmus zeigt uns ja oft genau die Bilder, die dieses vermeintliche Idealbild dann reproduzieren. Das beeinflusst natürlich auch unsere Wahrnehmung. Stattdessen könnte man sich in dieser Zeit auf die vorhandene Familie besinnen und dann nach zwei oder drei Wochen checken, ob der Wunsch immer noch da ist. Es sind ja immer viele kleine Puzzleteile, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen, und es ist schwer auseinanderzudividieren: Ist das jetzt mein Bedürfnis? Oder ist es der gefühlte Druck von außen?
Es gilt also, die rosa Brille abzusetzen ...
Anna Hofer: Richtig. Es kann ja auch sein, dass eine Geschwisterbeziehung gar nicht so harmonisch wird, wie wir es uns ausmalen. Es sind zwei individuelle Persönlichkeiten, die zu unterschiedlichen Zeiten in die Familie geboren werden und unterschiedliche Erfahrungen mit uns als Eltern machen. Viele Eltern sagen, dass sie zeitweise Lieblingskinder haben. Einzelkindern kann das nicht passieren. Und deren Eltern werden sich diesen Vorwurf auch nie anhören müssen.
Können Sie uns ein Fazit mitgeben?
Anna Hofer: Ich würde zusammenfassen: Einzelkind zu sein, bringt Vor- und Nachteile mit sich, die mitunter subjektiv sind. Ebenso kann es positive wie negative Effekte haben, mit Geschwistern aufzuwachsen.
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