Niemand begleitet uns normalerweise länger in unserem Leben als ein Bruder, eine Schwester oder ein geschwisterliches Enby. Doch nicht immer ist diese Beziehung zugewandt und herzlich.
Was Eltern tun können, um eine gute Bindung zu fördern, aber auch welche Fehler sie machen können im Umgang mit Geschwistern, beschreiben Danielle Graf und Katja Seide in ihrem Bestseller „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn – Das Geschwisterbuch“. Für uns haben sie sich Zeit genommen und erzählen uns, wie man als Eltern ein wertschätzendes Miteinander unter Geschwistern ermöglichen kann und welche Fallstricke man meiden sollte.
In ihrem neuen Buch beleuchten die Blog-Autorinnen schonungslos ehrlich und mit einem klugen und differenzierten Blick, was in Familien mit mehr als einem Kind besser und schlechter laufen kann, was ein guter Start und was auch mal ein komplett missglückter geschwisterlicher Erziehungsansatz sein kann.
BKK Mobil Oil: Es ist ein aufregender Moment, für die Eltern genauso wie für das Geschwisterkind: Das neue Baby ist da und wird in der Familie willkommen geheißen. Natürlich möchten wir als Eltern von Anfang an alles tun, damit die Bindung zwischen Neuankömmling und großem Kind gut wird. Aber wie gehe ich das am besten an?
Danielle Graf und Katja Seide: Die meisten Eltern versuchen, dem älteren Kind schon vor der Geburt zu erklären, wie es werden wird mit Baby. Dass es dann oft an der Brust gestillt wird, dass es viel getragen werden will, am Anfang noch nicht mit dem Geschwisterchen spielen kann und es vielleicht auch lauter wird, weil das Baby weint. Es ist natürlich nicht falsch, das zukünftige große Geschwister so vorzubereiten. Es steckt ein ganz richtiger Gedanke dahinter. Doch denken wir einmal zurück an die Zeit, als wir selbst das erste Mal schwanger waren. Unsere Freunde, die bereits Kinder hatten, haben uns gesagt, dass das Baby alles ändern wird. Dass wir kaum zum Schlafen, zum Essen oder zum Duschen kommen werden. Wir haben uns das angehört, aber haben wir deswegen gewusst, wie das Leben mit einem Baby wirklich sein wird? Waren wir nicht alle nach der Geburt trotz der Vorbereitung durch unsere Freunde völlig überwältigt von der Realität? Genauso geht es unseren Kindern. Sie hören unseren Erklärungen zu, sie verinnerlichen auch, dass ein Baby viel Zeit und Hilfe benötigt, aber was das wirklich bedeutet, das verstehen sie erst, wenn das Baby dann da ist. Das ist der Punkt, den sich Eltern vor Augen halten sollten: Ihr großes Kind hat gerade sein erstes Baby bekommen. Es ist von der Realität genauso überwältigt wie wir damals. Und alle Verhaltensweisen, die das große Kind nun zeigt, sind Ausdruck dieser Überwältigung. Bevor wir Eltern uns also darum kümmern, dass sich die Geschwister lieben lernen, müssen wir uns erst einmal um die Krise kümmern, in die unser Erstgeborenes jetzt vielleicht rutscht.
BKK Mobil Oil: Die nachgeburtliche Geschwisterkrise ist ein großes Thema in Ihrem Buch. Hier wird der Grundstein für die Beziehung zwischen den Geschwistern gelegt oder auch nicht. In Ihrem Buch wird die Ankunft eines neuen Babys mit Liebeskummer für das große Kind gleichgesetzt. Es ist, als würde der Partner oder die Partnerin mit einem neuen Lieblingsmenschen nach Hause kommen und sagen: „Guck mal, das ist X und weißt du was, X liebe ich genauso doll wie dich.“ Nicht auszudenken, was los wäre. Aber vom großen Geschwisterkind erwarten wir, dass es das hinnimmt und sich auch noch im besten Fall entzückend gegenüber dem Neugeborenen verhält. Wie können wir das große Kind bestmöglich auf diesen ersten großen Kummer vorbereiten und dann darin auffangen?
Danielle Graf und Katja Seide: Es darauf vorzubereiten ist kaum möglich, das habe ich gerade erklärt. Aber selbstverständlich kann man sein großes Kind dann mit all seinen Emotionen auffangen. Denn unsere Kinder haben furchtbaren Liebeskummer. Wir sind die erste große Liebe unserer Kinder und plötzlich ist da noch jemand, mit dem sie uns teilen müssen. Egal, wie stark wir Eltern uns anstrengen, das Baby nimmt unserem Erstgeborenen immer etwas weg. Unsere Zeit, unsere Aufmerksamkeit, unsere Ressourcen. Diese Lücke gilt es, so klein wie möglich zu halten. Am besten schaut man, wer die Bindungsperson Nummer 1 des Erstgeborenen ist. Zu wem geht es, wenn es sich verletzt hat, von wem will es ins Bett gebracht werden? Wenn das Papa ist, prima, dann kümmert sich Papa so intensiv wie möglich um das Erstgeborene. Ist Bindungsperson Nummer 1 aber Mama, dann sollte sich Mama auch so viel wie möglich um das Erstgeborene kümmern. Sehen Sie, das Baby hat im Moment noch keine Bindungsperson Nummer 1 – die sucht es sich gerade. Das ist von der Natur so eingerichtet. Wer auch immer in dieser Zeit am verlässlichsten die Bedürfnisse des Babys entschlüsselt und beantwortet, kommt in der Bindungshierarchie des Babys an die oberste Stelle. Es spricht also nichts dagegen, wenn Papa oder Co-Mama das Baby umsorgen, aber es spricht alles dafür.
BKK Mobil Oil: Geschwister, die mit einem engen Abstand und dem gleichen Geschlecht geboren wurden, scheinen besonders häufig und besonders heftig aneinanderzugeraten. Was können hierfür die Gründe sein und wie kann ich es schaffen, Spannung aus dieser Beziehung zu bekommen?
Danielle Graf und Katja Seide: Geschwistereifersucht ist evolutionär bedingt. Während Kinder heute liebevoll behütet aufwachsen, lag die Kindersterblichkeit vor etwa 500 Jahren noch bei etwa 50 Prozent. Es überlebten die Kinder, die es am besten verstanden, sich den größten Teil der knappen Ressourcen zu sichern. Das Kind, das am lautesten oder niedlichsten auf sich aufmerksam machte, erhielt in der Regel die meiste Zuwendung (wie z. B. Nahrung). Durch das Verhalten wurde auch die Bindung maßgeblich beeinflusst – ein Kind, in das eine Mutter viel „investiert“ hat, möchte sie ungern verlieren. Daher hatte jedes Kind das Ziel, sein Wohlergehen durch ein größtmögliches Maß an Aufmerksamkeit und Ressourcenzuteilung zu sichern. Da die Evolution ein sehr langsamer Prozess ist, sind Kinder noch immer genetisch so programmiert, dass sie denken, sie müssten mit allen Mitteln ihr Überleben sichern – also ununterbrochen um die Gunst der ihnen zugewandten Personen buhlen. Je geringer der Altersabstand ist, desto größer ist die geschwisterliche Konkurrenz. Das muss man im Hinterkopf behalten und dann eben das elterliche Verhalten anpassen, z. B. indem man jedem Kind jeden Tag eine exklusive Elternzeit gibt. Wichtig ist nicht, Streit zu minimieren oder zu verhindern, sondern ihn zu begleiten. Denn durch Streit lernen Kinder erst, Konflikte zu lösen.
BKK Mobil Oil: „Unsere Prinzessin“, „unser kleiner Charmeur“, „unser ruhiger Großer“ – warum sind solche, vermeintlich liebevollen beschreibenden Kosenamen schwierig in der Geschwisterkonstellation?
Danielle Graf und Katja Seide: Kinder haben eine unglaubliche Fülle an Eigenschaften und Fähigkeiten. Eine so grobe Verkürzung lässt das vollkommen außer Acht und fokussiert auf einen einzigen Punkt. Das kann dazu führen, dass Kinder diese verkürzte Außensicht anderer für sich annehmen und danach streben, diese zu erfüllen, und ihre anderen ureigenen Bedürfnisse und anderen Fähigkeiten aus den Augen verlieren. Das Selbst verbiegt sich dadurch womöglich.
BKK Mobil Oil: Ein weiterer wichtiger Punkt, den man als Eltern aus Ihrem Buch mitnehmen kann, ist, dass Geschwister nicht immer ein „Match“ sind. Manchmal passt es einfach nicht, gleiche Gene hin oder her. Eine Aussage, die vielen Eltern den Druck nimmt, deren Kinder nicht Hand in Hand durch das Leben gehen. Aber wie gehe ich als Elternteil damit um, dass ich da zwei oder mehr zu Hause habe, die trotz aller Bemühungen einfach keinen Zugang zueinander finden? Kann und sollte mir das egal sein? Oder sollte ich dennoch versuchen, eine bessere Beziehung anzustreben?
Danielle Graf und Katja Seide: Natürlich würden wir Eltern es am liebsten sehen, wenn sich unsere Kinder dauerhaft liebevoll in den Armen lägen. Aber manchmal passt tatsächlich die Chemie nicht. Wir haben im Buch sehr viele Möglichkeiten aufgeführt, wie man die Bindung auch zwischen Geschwistern stärken kann. Wichtig ist, eine Familienatmosphäre zu schaffen, in der sich alle wohlfühlen und bedingungslos angenommen fühlen. Zuneigung kann man nicht erzwingen, aber gegenseitigen Respekt kann man erarbeiten. Dementsprechend sollten Eltern sich nicht grämen, wenn es zwischen den Kindern einfach nicht passt. Dann ist die Bindung zueinander einfach nicht so stark, und vielleicht gehen sie als Erwachsene eher getrennte Wege. Doch bis dahin ist immerhin ein freundschaftlich-neutrales Verhältnis möglich, und das wiederum kann von den Erwachsenen unterstützt werden.
BKK Mobil Oil: Wer selbst zu Hause der Kleine war, fühlt jetzt eher mit dem Nesthäkchen mit, wer hingegen immer die Älteste war, gibt jetzt häufiger der Großen Recht. Wie schafft man es als Eltern, sich von solchen Prägungen zu lösen, die ja jeder Elternteil mit in die Familie bringt.
Danielle Graf und Katja Seide: Vermutlich wird es keiner Mutter und keinem Vater gelingen, Liebe, Zuneigung und Wertschätzung an allen Tagen in gleicher Weise auf alle Kinder zu verteilen. Das ist auch nicht nötig und führt nicht zu Störungen bei den Kindern. Erst wenn die Ungleichbehandlung systematisch wird, wenn über Monate und Jahre hinweg eines der Kinder anders behandelt wird als die anderen, wird es problematisch. Bemerkt man, dass man aufgrund der eigenen Kindheitsrolle mehr Verständnis für ein Kind hat oder einfach die Bindung zu einem Kind stärker ist, ist es wichtig, daran zu arbeiten, es nicht unangemessen stark zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Es kann hilfreich sein, im Rahmen einer Elterngruppe oder einer psychologischen Beratung Strategien dafür zu entwickeln, allen Kindern gerecht zu werden. Jedes unserer Kinder hat ein Recht darauf, in seiner individuellen Persönlichkeit gesehen zu werden sowie Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten.
BKK Mobil Oil: Nicht immer kann man alle Kinder gleich behandeln. Da ist zum einen der Altersunterschied, manchmal brauchen aber auch Geschwister besondere Zuwendung aus unterschiedlichen Gründen, wie z. B. einer Erkrankung. Wie erreiche ich Verständnis des „benachteiligten“ Geschwisterkindes?
Danielle Graf und Katja Seide: Es ist wichtig, mit Kindern darüber zu sprechen, dass Gleichbehandlung nicht Gerechtigkeit bedeutet. Es gibt ein bekanntes Bild, auf dem drei Kinder versuchen, über eine Mauer zu schauen. Die drei Kinder sind unterschiedlich hoch gewachsen – eines kann aufgrund seiner Größe bereits selbstständig über die Mauer schauen, beim zweiten Kind fehlt noch ein kleines Stück, und das dritte Kind ist viel zu klein. Nun kann man in diesem Bild genau drei gleich große Kisten an diese Kinder verteilen. Fragen wir jetzt unser Kind, wie es die Kisten verteilen würde, wird es vermutlich nicht vorschlagen, jedem Kind eine Kiste zu geben, denn dann würde zwar das mittlere über die Mauer schauen können, aber das kleinste immer noch nicht. Gerechter ist die Verteilung, wenn dem kleinsten zwei und dem mittelgroßen eine Kiste gegeben wird. Nun können alle über die Mauer schauen, aber es ist formal gesehen eine Ungleichbehandlung. Denn das größte Kind in diesem Bild hat ja keine Kiste abbekommen. Es braucht die Kiste ja auch nicht. Das, was Kinder brauchen, kann sehr unterschiedlich sein. Das ist das, was unsere Kinder erkennen sollten. Wichtig ist, immer zu erklären, warum man bestimmte Entscheidungen getroffen hat. Auch wenn Kinder das manchmal nicht verstehen, wissen sie dadurch, dass wir nicht willkürlich handeln.
Vier Fälle, vier Lösungen
Abschließend haben wir hier vier Situationen, die sich im Leben mit mehreren Kindern ergeben – wie verhalten wir uns als Eltern hier am besten?
BKK Mobil Oil: Ein Klassiker: Seit der Geburt des Babys ist das große Geschwisterkind auch wieder ein Baby – es fällt in der Sprache zurück, es möchte auf den Arm und ein Fläschchen. Unterstützen oder ignorieren – wie reagiert man hier als Eltern am besten und zum Wohle des Kindes?
Danielle Graf und Katja Seide: Das gibt sich mit der Zeit ganz von selbst. Eltern brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ihr Kind nun für immer wieder Windeln oder Nuckeln möchte oder gar nicht mehr aus dem Familienbett auszieht. Wenn es merkt, dass es die gleichen Rechte hat wie das Geschwisterchen, wird das regressive Verhalten mit der Zeit allein verschwinden. Sätze wie „Du bist doch schon groß!“ oder „Du bist doch kein Baby mehr!“ sind völlig fehl am Platz und sollten aus dem Vokabular der Erwachsenen gestrichen werden. Das große Geschwisterchen will sich nur versichern, ob es dieselben Rechte hat wie der Neuankömmling. Schon bald wird es wieder reizvoller sein, der oder die Große zu sein.
BKK Mobil Oil: Die Zweijährige kneift und kratzt ihren neugeborenen Bruder, wann immer sie denkt, dass die Mutter nicht hinsieht – schimpfen, in den Arm nehmen, trennen?
Danielle Graf und Katja Seide: Mit zwei Jahren kann ein Kind seine Impulse noch nicht ausreichend kontrollieren. Das größere Geschwisterchen versteht auch noch gar nicht, dass das Kratzen dem Baby wehtut. Das Kratzen ist ein deutliches Anzeichen für eine nachgeburtliche Geschwisterkrise. Die Zweijährige drückt dadurch ihren Herzschmerz aus. Daher ist weder Schimpfen noch Bestrafen sinnvoll, sondern die Begleitung dieses negativen Gefühls und viel Liebe, Zuwendung und Trost. Dennoch: Die Eltern müssen ihr Neugeborenes unbedingt proaktiv schützen. Es darf nicht mit seiner Schwester alleine sein.
BKK Mobil Oil: Manchmal ist es absurd: Da steht man mit zwei Kindern im Kindergartenalter auf einem Kiesweg mit hunderttausend kleinen und großen Steinen und die Kinder fangen an, sich um genau einen einzigen kleinen, grauen Kiesel zu streiten!
Danielle Graf und Katja Seide: Kinder müssen lernen, Konflikte friedlich zu lösen. Das erfordert jedoch viel Zeit und Übung! Unsere Aufgabe als Eltern ist es daher nicht, Streit zu verhindern, sondern ihn zu begleiten und darauf zu achten, dass er fair bleibt. So anstrengend Streit ist, er hat ja auch eine wichtige Funktion: Geschwister lernen in einem geschützten Umfeld soziale Konflikte auszutragen. Diese Fähigkeit können sie nicht ausreichend entwickeln, wenn wir Streit grundsätzlich unterbinden wollen.
BKK Mobil Oil: Sind es bei den kleineren Kindern noch die scheinbar wertlosen Kiesel, geht es bei den großen um die Playstation, die perfekte Sofaecke oder die letzte Tiefkühlpizza. Wie kann ich meinen großen und auch kleinen Kindern beibringen, miteinander zu streiten und am Ende eine Lösung auf dem Tisch zu haben, mit der alle Beteiligten leben können?
Danielle Graf und Katja Seide: Auch beim Streiten schauen sich Kinder viel von uns Eltern ab. Daher finden wir es wichtig, auch mit sehr jungen Kindern schon zu diskutieren und Kompromisse zu verhandeln. Dadurch lernen sie, dass ihre Argumente ernst genommen und abgewogen werden. Gemeinsam sollten Familienleitlinien aufgestellt werden, an die sich beim Streiten gehalten werden muss. Innerhalb dieses Rahmens kann man den Kindern das Konsensfinden selbst überlassen. Nur wenn sich über die Regeln hinweggesetzt wird, müssen Eltern zum Schutz einschreiten.
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