Cybermobbing: Schikanen im Internet souverän begegnen
Schüler aktiv und langfristig im Unterricht beim Aufbau wichtiger Sozial- und Medienkompetenzen zu unterstützen, bezeichnet Univ.-Prof. Dr. Herbert Scheithauer, Entwicklungspsychologe an der Freien Universität Berlin, als wirksame Vorbeugung von Cybermobbing.
Da unter Pandemiebedingungen Sozialkontakte stärker im Internet gepflegt werden und Cybermobbing seither noch häufiger vorkommt, gilt es, Schüler noch besser zu schützen. Warum Jugendliche besonders häufig Opfer von Cybermobbing sind, wie Eltern richtig reagieren sollten, wenn sie mitbekommen, dass ihr Kind betroffen ist, und was der Experte Schülern empfiehlt, die von Cybermobbing betroffen sind – dies und mehr beantwortet Univ.-Prof. Dr. Scheithauer im Interview.
Mobil Krankenkasse: Fast jeder fünfte Jugendliche wurde schon einmal über digitale Medien beleidigt, beschimpft oder lächerlich gemacht. Warum sind Jugendliche so häufig Opfer von Cybermobbing?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Mit Einsetzen der Pubertät gewinnt das eigene „Image“ an Bedeutung. Das Dazugehören und die Stellung in der Gruppe sind in dieser Lebensphase besonders wichtig – also: Bin ich beliebt? Nicht nur „offline“, sondern auch online. Über das Smartphone ergeben sich viele Möglichkeiten der Selbstinszenierung sowie Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Viele Jugendliche nutzen WhatsApp-Gruppen, etwa einen Klassenchat. Bei Instagram und Snapchat laden sie Fotos und Videos hoch und kommentieren Einträge. In der Pubertät mangelt es manchen Schülern noch an ausgereiften sozialen Kompetenzen, weshalb andere gegebenenfalls „aus Versehen“ gemobbt werden, außerdem fehlt es ihnen an Erfahrungen und technischem Know-how, um sich gegenüber Angriffen zu schützen und ihre Accounts sicher anzulegen.
Mobil Krankenkasse: Was macht digitales Mobbing so gefährlich?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Gerüchte, Peinlichkeiten oder Beschimpfungen können nicht nur den sozialen Status gefährden, sondern langfristig zu massiven psychischen Problemen führen. Denn während die herkömmliche Mobbing-Situation vor der eigenen Wohnungstür endet, verfolgen digital verbreitete Verunglimpfungen die Schüler mit jedem Blick aufs Smartphone weiter. Cybermobbing kann daher deutlich belastender sein. Täter haben rund um die Uhr Möglichkeiten, ihr Opfer zu belästigen. Dazu kommt, dass über soziale Netzwerke Mitschüler und Unbekannte mitlesen, kommentieren und Beiträge teilen können. Beleidigende Inhalte können teilweise nie wieder gelöscht werden, wenn zum Beispiel der Server in den USA steht. Verfremdete, verunglimpfende Fotos wurden von Jugendlichen in unseren Studien als besonders schlimm empfunden. Statt eines Handyverbots an Schulen finde ich es daher sinnvoller, einen gewünschten Umgang und eine Einbindung in den Unterricht zu praktizieren – mit gemeinsam erarbeiteten Nutzungsregeln.
Mobil Krankenkasse: Seit Ende 2018 wird mit Unterstützung der Mobil Krankenkasse an bayerischen Schulen das wissenschaftlich geprüfte Präventionsprogramm „Medienhelden“ durchgeführt, an dem Sie beteiligt sind. Was unterscheidet Ihr Programm von anderen Präventionsprogrammen?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: „Medienhelden“ ist ein wissenschaftlich fundiertes Programm, entwickelt als Curriculum für und zusammen mit Lehrkräften. Dabei verwenden wir besonders innovative und partizipative Methoden, wie den „Peer-to-Peer“- und den „Student-to-Parent“-Ansatz. „Medienhelden“ ist nicht nur wirksam gegen Cybermobbing, es unterstützt auch beim Aufbau wichtiger Sozial- und Medienkompetenzen. Im Rahmen einer kontrollierten Wirksamkeitsstudie haben wir zeigen können, welche positiven Effekte das Programm in unterschiedlichsten Bereichen hat. Dies wurde mit dem „European Crime Prevention Award“ (2015, zweiter Platz) belohnt. Wir setzen „Medienhelden“ über einen „Train-the-Trainer“-Ansatz um und freuen uns sehr, dass wir dank einer Förderung der Mobil Krankenkasse das Programm in Bayern erfolgreich durchführen können.
Mobil Krankenkasse: In den zehn Wochen setzen Sie unter anderem auf Rollenspiele. Was hat Ihre Erfahrung gezeigt – weshalb wirkt Ihr Programm nachhaltig?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Wir bearbeiten und fördern bei den Schülern grundlegende Kompetenzen „offline“. Diese zeigen sich dann auch in einem positiven Onlineverhalten. In Rollenspielen üben Jugendliche in einem geschützten Rahmen, sich in andere hineinzuversetzen – Stichwort Perspektivenwechsel. Über die Rollenspiele erfahren die Schüler Reaktionen auf ihr Verhalten, erarbeiten miteinander Problemlösungen und lernen so, ein angemessenes Sozialverhalten aufzubauen. Sie erleben sich dabei, wie sie miteinander in der Klasse positiv interagieren. Dies bereitet letztlich auch Spaß, das Klassenklima wird besser und wir erleben nachweislich weniger Schulhofmobbing.
Mobil Krankenkasse: Eine Schlüsselrolle zur Prävention von Cybermobbing spielen bei Ihnen die Lehrkräfte. Wie profitieren diese von „Medienhelden“?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Viele Lehrkräfte fühlen sich überfordert im Umgang mit neuen Medien – was nicht verwundert, da dies nicht zur Lehrkräfteausbildung zählt oder einige Lehrkräfte in höherem Alter aufgrund der schleppenden Digitalisierung im Schulkontext noch nie oder wenig damit gearbeitet haben. Das Programm „Medienhelden“ bietet den Lehrkräften Hilfestellungen. Die Struktur und die Materialien unterstützen bei der Umsetzung. Das Thema eignet sich unter anderem für den Sach- oder Ethikunterricht.
Mobil Krankenkasse: Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind gemobbt wird?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Teilweise ist dies schwer zu erkennen, da sich Kinder und Jugendliche manchmal für die Attacken schämen oder sie sich aufgrund erster Ablösungsprozesse nicht mit dieser Thematik bei den Eltern aufgehoben fühlen. Eltern sollten aufmerksam werden, wenn ihr Kind plötzlich lustlos oder deprimiert wirkt, Angst hat oder keine Lust hat, in die Schule zu gehen, Schlafschwierigkeiten zeigt oder plötzliche Verhaltensänderungen aufweist. Treten solche Probleme auf, sollte immer auch abgeklärt werden, ob eine Mobbingproblematik zugrunde liegt.
Mobil Krankenkasse: Wie reagieren Eltern richtig, wenn sie mitbekommen, dass ihr Kind betroffen ist?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Vorsichtig und mit Feingefühl! Man muss sein Kind beobachten und den richtigen Moment abwarten, um es darauf anzusprechen, wenn es sich nicht selbst öffnet. Zudem macht es Sinn, eine „feine Antenne“ zu haben bei Gesprächen mit anderen Eltern oder Lehrkräften. Sollte sich herausstellen, dass das eigene Kind Opfer von Cybermobbing geworden ist, ist es sehr wichtig, dem Kind klar und deutlich zu zeigen: Ich stehe zu dir! Ich kümmere mich darum! Wir tun alles, damit es aufhört! Und: Es ist nicht deine Schuld, dass du Opfer von Cybermobbing geworden bist! Dann gilt es, schnell mit den richtigen Ansprechpartnern in der Schule zu reden oder sich beraten zu lassen über entsprechende Mobbingberatungsstellen. In schwierigeren Fällen müssen auch Strafanzeigen in Erwägung gezogen werden.
Mobil Krankenkasse: Was empfehlen Sie Schülern, die von Cybermobbing betroffen sind?
Univ.-Prof. Dr. Scheithauer: Zunächst: wenn möglich, Beweise sichern, zum Beispiel Screenshots anlegen und Website-Links dokumentieren. Gegebenenfalls auch die Polizei einschalten, denn Beleidigungen, üble Nachrede, Verleumdungen und Drohungen sind Straftatbestände und können mit Geld- und Freiheitsstrafen bestraft werden! Wichtig ist zudem: sich anderen anvertrauen, insbesondere den Eltern, und mit denen eine Strategie überlegen. Wenn man sich den eigenen Eltern im ersten Schritt nicht anvertrauen möchte, andere Vertrauenspersonen einbinden, etwa die Vertrauenslehrkraft. In bestimmten Fällen sind Interventionen auf Schul- oder Klassenebene nötig.
Wichtig ist, sich klarzumachen: Man ist nicht alleine. Die Schüler können sich immer Hilfe holen, auch anonym. Gute Adressen sind beispielsweise das Kinder- und Jugendtelefon „Nummer gegen Kummer“ (Tel: 116 111) und die Online-Plattform JUUUPORT, über die Jugendliche ehrenamtlich Gleichaltrige zu Problemen in der Onlinewelt beraten.
Weitere Informationen unter www.medienhelden.info.